Der Begriff Minimum Viable Product (MVP) fällt spätestens in der zweiten Runde jeder Diskussion um Innovationsprozesse. Ein Minimum Viable Product erfährt dabei viele unterschiedliche Bedeutungen. Mal ist damit ein einfacher Papier-Prototyp gemeint, mal ein reales Angebot am Markt. Nur ganz selten wird damit tatsächlich das gemeint, was die Erfinder des Konzepts im Sinn hatten: Die Version eines Produktes oder Services, die den Entwicklern mit geringst möglichem Aufwand die maximale Menge an validiertem Kundenfeedback einbringt. Um zu testen, ob das Angebot für den Kunden relevant ist und ein tatsächliches Kaufinteresse besteht, muss ein MVP real am Markt angeboten werden. Es muss jedoch kein fertiges Produkt sein, sondern kann zunächst auch eine einfache Landingpage oder ein Erklärvideo auf einer Crowdfunding-Plattform sein.
Der US-amerikanische Unternehmer Frank Robinson prägte den Begriff 2001, Stanford-Professor Steve Blank und der Unternehmer Eric Ries sorgten für seine weitere Verbreitung. Unter anderem ist das Minimum Viable Product Kernbestandteil des Lean Startup Ansatzes, welchen Ries in seinem Buch „Lean Startup“ beschreibt. Da das MVP eine Möglichkeit bietet, das Risiko in der Innovationsentwicklung zu minimieren, gibt es inzwischen zahlreiche Erfahrungen mit dem Konzept. Hier die wichtigsten Prinzipien.
Prinzip 1: Potemkinsche Dörfer
Wer eine neue Produktidee am realen Kunden testen will, muss dafür so gut wie keine Entwicklungskosten aufwenden. Das Grundprinzip eines MVPs ist es, das Kundeninteresse für ein Produkt zu testen, ohne das Produkt vollständig zu entwickeln. Meist reicht ein kluger Mix existierender Hilfsmittel und Technologien. Es geht darum, die Illusion einer Produktumgebung zu schaffen und die Vision zu vermitteln. Ein adäquates Minimum Viable Product für eine digitale Plattform wie Airbnb wäre zum Beispiel eine Facebook-Gruppe, in der die Gründer zunächst ihre eigenen Apartments anbieten. Das Kundenfeedback könnte so durch die Nachfragen und Kommentare in der Gruppe gesammelt werden.
Prinzip 2: Den Kunden ins Boot holen
Ein Minimum Viable Product soll testen, ob das Produkt oder der Service grundsätzlich für den Kunden relevant ist. Um dies herauszufinden, ist es wichtig, den Kunden real einzubeziehen. Es gehört jedoch nicht jeder zur richtigen Zielgruppe eines MVPs. Geeignet sind Kunden, die die Vision des Produktes verstehen, anfängliche Fehler verzeihen und gewillt sind Feedback, Verbesserungsvorschläge und Empfehlungen einzubringen. Diese nennt Blank „Earlyvangelists“ (Early Adopters + Evangelists). Auf dieser Basis wird das Produkt stetig weiterentwickelt. Durch den Austausch und die gemeinsame Weiterentwicklung werden die Kunden so beinahe zu Mitgliedern des Entwicklungsteams.
Prinzip 3: Das Geschäftsmodell prüfen
Der Bestandteil „Product“ des Namens Minimum Viable Product darf ruhig ernst genommen werden. Es geht um eine Ware oder Leistung, die tatsächlich am Markt angeboten wird und für die sich mindestens ein Kunde oder Nutzer ernsthaft interessiert. Die Bereitschaft des Kunden zu kaufen oder sich in einer anderen Form zu verpflichten, ist der Gradmesser für den Erfolg. Der Test in der freien Wildbahn zeigt so gnadenlos die Schwächen entlang der gesamten Wertschöpfungskette auf. Dies grenzt das MVP von einem Prototyp ab, dessen Ziel es ist, die Funktionalität zu testen. Zudem ist das Testumfeld eines Prototypen meist künstlich. Auch hier ist es möglich nach der Kaufabsicht zu fragen – ein Bezeugen dieser fällt in dieser künstlichen Umgebung jedoch leicht.
Prinzip 4: Echte Funktionalität bieten
Das besondere an einem Minimum Viable Product ist die Balance zwischen den Begriffen „minimum“ (=minimal) und „viable“ (=lebensfähig). Ein häufiger Fehler ist eine Dysbalance zu Lasten der Lebensfähigkeit. Diese ist gegeben, wenn die Qualität des MVPs zu gering ist, um eine akkurate Überprüfung der Kaufabsicht durchzuführen. Man sollte sich daher genau überlegen, wie das minimale Feature Set aussieht. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Wort „Viable“, also lebensfähig. Wer die Vermittlung von Übernachtungen in Privatwohnungen testet, wird sich bei der Gestaltung des Nutzungserlebnisses für die Anmietung besondere Mühe geben. Extra-Funktionen wie ein mobiles Bezahlsystem, Gutscheine oder ähnliches sind zu Beginn unnötig. Den meisten Entwicklern eines Produktes fällt es schwer, sich auf die wirklich notwendigen Funktionen zu beschränken. Das ist jedoch vor allem bei physischen Produkten besonders wichtig – denn jede unnütze Funktion erhöht nur den Aufwand der Herstellung und verwässert die Erkenntnisse aus dem Kundenfeedback. Minimale Funktionalität liefert maximale Erkenntnisse.
Prinzip 5: Testen und falsifizieren – das MVP als Methode
Ein Minimum Viable Product ist nur dann wertvoll, wenn die Kommunikation mit den Kunden genutzt wird, um Annahmen zu hinterfragen. Die Hypothesen stehen in der Regel fest, als Idee, als Aussage von Kunden, die sich ein bestimmtes Produkt wünschen, als Miniumfrage unter Geschäftsfreunden. Wichtig ist, kritisch zu bleiben und zu versuchen, diese Annahmen zu widerlegen.
Im Verlauf der Testreihen sammeln die Entwickler eine Menge valider Details, die helfen, die wahren Kundenbedürfnisse zu erkennen und ein exakt passendes Produkt zu entwickeln. Angst vor Fehlern muss man hier nicht haben. Im Gegenteil – in diesem Stadium trägt jeder Fehler dazu bei, überflüssige oder schädliche Produktfunktionen zu vermeiden. Was immer auch passiert, ein flexibler Umgang mit den Ergebnissen und ein Ergreifen von Chancen, die sich ergeben ist essentiell. Das Unternehmen N26 zum Beispiel hatte zunächst geplant eine Taschengeldkarte für Kinder zu entwickeln. Während sie das erste MVP launchten, stellten sie fest, dass das Produkt auch für Erwachsene attraktiv ist. Sie erkannten das Potenzial und schwenkten auf die Entwicklung der mobilen Bank von morgen um.
Werden diese Prinzipien des MVPs berücksichtigt, kann ein Großteil des Risikos in der Innovationsentwicklung reduziert werden: Die Kaufbereitschaft und damit eine grundsätzliche Akzeptanz am Markt wird validiert, bevor große Investitionen in die Produktentwicklung erfolgen. Damit wird das Minimum Viable Product zu einem wichtigen Tool, um Vorgesetzte, Investoren oder andere relevante Stakeholder zu überzeugen.
Die Evolution des Minimum Viable Product
Die oben genannten Prinzipien beschreiben ein MVP im Sinne der ursprünglichen Definition von Blank, Ries und Co. Diese ist relativ breit gefasst und bezieht auch Methodiken ein, die zunächst einmal lediglich das Angebot am Markt testen, ohne dass wirklich eine Leistung erbracht wird (z.B. eine Landingpage). Mittlerweile verwenden viele eine Definition des MVP, die wesentlich enger gefasst ist, wie zum Beispiel der Autor des Buches „Running Lean“ Ash Maurya. Nach seiner Definition muss beim MVP die tatsächliche Leistung auch erbracht werden. Ob die Leistungserbringung manuell geschieht und nicht automatisch, wie später vorhergesehen, ist dabei egal. Diese Definition nähert sich damit der Definition Minimum Marketable Produkt an.
Michael Leitl
Director Strategy bei TOI. Michael entwickelte für die deutsche Ausgabe der Harvard Business Review Innovations-, HR- und Marketing-Beiträge gemeinsam mit den Autoren aus Forschung, Beratung und Unternehmenspraxis. Er unterstützte das Innovationsteam des SPIEGEL-Verlags beim Aufbau des Innovationsmanagements und ist Mitgründer der Startups Pocketstory und Styled.by.
Maria Krüger
Innovation Strategist bei TOI. Maria ist studierte Wirtschaftspsychologin und hat einen Master in Business Development. Sie hat internationale Erfahrung in ethnografischer Nutzerforschung und der Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen. Sie ist ein Spezialist in der Erstellung von Insights und nutzerzentrierter Konzeptentwicklung. Sie liebt es Workshops mit innovativen Methoden zu moderieren und die Gruppe durch die Phasen des Design Thinking Prozesses zu führen.