In vielen Diskussionen in Workshops zur Produktentwicklung kommt es zu der Frage nach den Unterschieden zwischen Prototyp und Minimum Viable Product. Die Verwirrung beginnt in der Regel an dem Punkt, an dem eine Konzeptidee zum ersten Mal als Prototyp zum Leben erweckt wird. Sei es als Gebilde aus Pappe und anderen Materialien, als erste Version eines Werbeplakats oder einer Landingpage.
Ab wann wird aus dem Prototyp ein Minimum Viable Product? Und wann setzt der Prozess Build – Measure – Learn ein, der durch die Lean-Start-up-Methode bekannt wurde?
Wir müssen hier grundsätzlich unterscheiden zwischen der klassischen Art der Produktentwicklung und modernem, agilen Arbeiten. Vor allem liegt der Unterschied in einer grundlegend anderen Haltung zur Entwicklungsarbeit.
Eine Frage der Haltung
Der klassische Wasserfall-Prozess geht davon aus, dass die Ingenieure und Entwickler verstanden haben, was einen Kunden plagt. Sie schreiben ein Lastenheft, entwickeln eine Lösung und ein Produkt, bauen eine erste Version und testen ihre Funktion auf Herz und Nieren. Dann erst werfen sie das Produkt über den Zaun und testen die Reaktion der ersten Kunden. Ein spannender Moment – denn wie wir wissen, treffen die Entwickler die tatsächlichen Bedürfnisse der Kunden eben doch erheblich seltener als gedacht. Das zeigen die vielen Fehlschläge und die vielen Verbesserungen, die nötig waren, um aus mittelmäßigen doch noch leidlich erfolgreiche Produkte zu machen: Nicht umsonst werden viele Produkte spöttisch als Bananenprodukte bezeichnet – sie reifen beim Kunden. Windows braucht regelmäßig einige Anläufe, bis die Versionen wirklich nutzbar sind, analog entwickeln sich neue Features in Autos häufig erst nach Kundenbeschwerden weiter.
Die Haltung beim Wasserfall-Prozess lässt sich gut beschreiben mit Zielstrebigkeit, Umsetzungsstärke und einem stringenten Plan, der Schritt für Schritt abgearbeitet wird, mit dem Ziel der Markteinführung.
Als Eric Ries 2011 die agile Methode Lean Start-up in seinem Buch beschrieb, setzte er den Grundstein für eine grundlegend andere Haltung zur Produkt- und Serviceentwicklung. Im Rahmen des Prozess „Build – Measure – Learn“ geht es darum, möglichst früh möglichst viel zu lernen. Das bedeutet, das schon im frühesten Stadium der Ideenentwicklung mögliche Eigenschaften, Lösungsansätze als Hypothesen formuliert und von echten Kunden getestet werden. Die Erkenntnisse fließen laufend in den Entwicklungsprozess ein. Steve Blank, einer der wichtigsten Befürworter des Lean-Start-up-Modells beschreibt das Ziel so: „Es geht nicht darum ein fertiges Produkt zu bauen, sondern die Erkenntnisse aus dem Lernprozess zu maximieren, durch inkrementelles und iteratives entwickeln.“ Gegenstand des Lernens kann dabei Produkteigenschaften sein, Kundenbedürfnisse, das richtige Preismodell, die passenden Vertriebskanäle oder anderes sein.
Im Schritt „Build“ ensteht dabei, so der Berater Steve Blanck, ein Minimum Viable Produkt. Das ist nicht einfach ein Produkt mit möglichst wenig Funktionen. Stattdessen soll an diesem Punkt eine greifbare Version entstehen, die „zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung das Maximum an Lernfortschritt ermöglicht“. Es steht grundsätzlich das Streben nach Erkenntnis im Vordergrund.
Aus diesem Grund benötigt jedes MVP nicht nur eine Form (ein Pappmodell, eine Präsentationsfolie, ein Wireframe), sondern vor allem auch Parameter, die es ermöglichen, eine zum MVP gehörende Hypothese zu testen.
Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass ein MVP immer mit dem Ziel gebaut wird, einer Hypothese Gestalt zu geben, um sie tatsächlich testen zu können. Das ist der wesentliche Unterschied zum Prototyp, der erst einmal gebaut wird, um eine Idee besser begreifen und erklären zu können oder die technische Funktionalität prüfen zu können.
Der Weg ist das Ziel
Es geht also darum, eine gewisse Distanz zum eigenen Wissen und der eigenen Erfahrung aufzubauen. Eine Art grundlegender Skeptizismus, ob das was wir wissen, tatsächlich stimmt. Das Vorgehen, alle Annahmen erst dann als bestätigt anzusehen, wenn es überprüfbare Daten gibt, ist das Ziel des Prozesses rund um das Minimum Viable Product. Der Weg der ständigen Wiederholung ist das Ziel auf der Suche nach Erkenntnis über die wahren Bedürfnisse von Kunden und einer Lösung, wie sie sich erfüllen lassen. Ein Hauch von Philosophie schwebt über diesem Prinzip. Das Mantra des Innovators könnte auch nach Sokrates lauten: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“