Das Bild vom Innovator als wilder, ein wenig verrückter Denker hält sich hartnäckig. Für die wirklich neuen, coolen Lösungsansätze sollen sie weit in die Ferne schauen und möglichst viele unterschiedliche Gedanken, Blickwinkel, Trends oder technologische Entwicklungen einbeziehen. Am besten noch aus anderen Branchen. Das Motto: Je verrückter, desto besser.
Wirklich? Nein! Es geht auch umgekehrt. Mit der Methodik „Systematic Inventive Thinking“ (kurz: SIT), entwickelt von der gleichnamigen Israelischen Agentur, konzentrieren sich Innovatoren auf den Blick IN die Box. Basierend auf den zwei Kernprinzipien „Closed World“ und „Function follows form“ wird mit dieser sehr strukturierten Ideenentwicklungsmethode alles bisher da Gewesene auf den Kopf gestellt und hinterfragt.
Eine Welt für sich
Das erste Prinzip „Closed World“ besagt, dass wir mit den Ressourcen innovieren sollen, die wir haben. Also anstatt neidisch auf die Elon Musks und Googles dieser Welt zu schauen und darüber zu sinnieren, warum wir es wohl nie ganz dorthin schaffen werden, geht es darum sich auf die eigenen Ressourcen, das eigene Wissen und die eigenen Produkte und Services zu konzentrieren. Innovation sollte aus dem Bestehenden erwachsen. Idealerweise sagt unser größter Konkurrent nach erfolgreichem Produktlaunch: „Das liegt sowas von auf der Hand. Warum sind wir nicht darauf gekommen?“
Der Gestaltungsgrundsatz des Bauhaus „form follows function“ (Teil eines berühmten Zitats des amerikanischen Architekten Louis Henry Sullivan) wird mit dem zweiten Prinzip „Function follows form“ über den Haufen geworfen. SIT gibt vor, zuerst eine Lösung zu finden und dann zu überlegen welches Problem dadurch gelöst wird. Konkret bedeutet das: Wir fangen in unserer geschlossenen Welt an, wenden eine Ideentechnik an, um eine Lösung zu finden (die Form) und identifizieren erst dann den Mehrwert (die Funktion).
Die glorreichen Fünf
Um im Rahmen von SIT Ideen zu entwickeln, gibt es 5 verschiedene Techniken, die getrennt voneinander angewendet werden: Subtraktion, Division, Multiplikation, Aufgabenvereinbarung und Abhängigkeit von Eigenschaften.
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- Bei der Subtraktion wird eine bislang notwendig geglaubte Komponente des Produktes entfernt. So wurden z.B. aus den ursprünglichen Kopfhören, durch das Entfernen der Hülle schließlich Kopfhörer IN den Ohren. Beim Anwenden von Subtraktion ist es wichtig, dass es sich bei dem entfernten Teil um etwas handelt, das in der Kontrolle des Unternehmens liegt und weder das essentiellste oder unwichtigste Teil darstellt. So konnten Billigairlines entstehen, indem sie sich von allem überflüssigen Schnickschnack befreiten und nur noch den reinen Flug zu deutlich günstigeren Preisen anbieten konnten.
- Bei der Division wird entsprechend des Namens ein Teil in mehrere Teile aufgeteilt und neu angeordnet. So gibt es die „funktionale Division“ wobei eine Funktion vom eigentlichen Produkt separiert wird. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Fernbedienung des Fernsehers. Früher waren alle Funktionalitäten wie Laut, Leise, Vor, Zurück im Gerät selbst integriert. Durch die Trennung der Funktionalitäten „Bildwiedergabe“ und „Ansteuerung“ konnte das Fernseherlebnis nachhaltig verbessert werden. Die „physische Division“ kommt zum Tragen beim Aufnehmen von Musik. Sie wird in der Regel auf separaten Tonträgern aufgenommen und erst später konfiguriert. Abschließend gibt es noch die „erhaltende Division“, wobei ein Produkt in kleinere Module aufgespaltet wird, wie z.B. bei separaten Druckerpatronen im Gegensatz zu einer großen.
- Bei der Multiplikation wird ein Teil dupliziert und dabei in einer oder mehreren Charakteristiken verändert. Das Ergebnis ist dann eine neue Konfiguration des Originals oder aber eine komplett neue Erfindung. Beispiele hierfür sind mehrklingige Rasierer, Kinderfahrräder mit Stützrädern oder Bild-in-Bild Fernsehen zum gleichzeitigen Verfolgen von zwei Kanälen.
- Die Aufgabenvereinbarung soll helfen, Ressourcen zu optimieren. Dabei unterscheidet man in „Auslagerung“ (eine interne Aufgabe wird durch externe Personen durchgeführt; z.B. Apps die durch die Crowd entwickelt werden), „das Meiste aus bestehenden Ressourcen zu holen“ (eine Aufgabe wird von nun an durch eine andere Person mitübernommen; z.B. Schauspieler spielen ihre eigenen Instrumente, so dass kein Orchester mehr nötig ist) und „Inside out“ (eine interne Komponente übernimmt die Aufgabe einer externen Komponente; z.B. ein Mobiltelefon bekommt einen KI-Chip, um aufwändige Berechnungen nicht mehr in der Cloud durchführen zu müssen).
- Die „Abhängigkeit von Eigenschaften“ hilft dabei, ursprünglich voneinander unabhängige Attribute voneinander abhängig zu machen. Diese Ideen stehen oft im Kontext des Internets der Dinge oder Geobasierter Informationsvergabe: Befinde ich mich an einem bestimmten Ort, bekomme ich bestimmte Nachrichten. Aber auch funktionale Eigenschaften können aufeinander bezogen werden: Ein Scheibenwischer, der bei starkem Regen schneller wischt. Musik, die lauter wird, je schneller das Auto fährt oder ein Coffee-to-go Becher, der die Farbe je nach Temperatur des Getränks ändert.
Durch die 5 Techniken werden bestehende Denkmuster bewusst durchbrochen und schaffen so Raum für Neues. Mit Hilfe dieses strukturierten Ideengenerierungsansatz können Lösungen entwickelt werden, die im Bereich des Machbaren liegen, schnelle Erfolge gewährleisten, sich optimal in das bestehende Produktportfolio eingliedern lassen und eine echten Mehrwert darstellen.
Dennoch glaube ich, dass es hin und wieder lohnt auch einen Blick nach draußen zu werfen, um Inspiration und Kenntnisse entlang verschiedenster (Branchen/Technologien/Bedarfe) Horizonte zu entwickeln. Innovation passiert nicht nur in der Box, aber auch nicht nur außerhalb der Box – beides miteinander zu vereinen, dass ist die hohe Kunst.